Eintauchen in die Welt des Kickboxens: Ein Sport, der Kraft, Technik und Ausdauer erfordert. Doch die Frage bleibt: Ist Kickboxen für jeden geeignet oder birgt es wirklich so viele Risiken, wie oft angenommen wird? Eine Reportage von Tim Gysi und Riccardo Valgimigli.

Um Viertel vor acht komme ich mit dem 10er Bus, in Ostermundigen an der Haltestelle “Zollgasse” an. Ich steige aus und stehe an der Hauptstrasse eines Wohngebietes. Ich nehme mein Handy und laufe mit Hilfe von Google Maps zum Gym. Ich bemerke, wie ich nervös werde, auch wenn ich es mir nicht zugestehen will. Beim Haupteingang angekommen, erwartet mich Riccardo schon. Zusammen gehen wir die Treppen hoch, begrüssen ein paar Kollegen von Riccardo und gehen in die Herrenumkleidekabine. Mein erstes Kickbox-Training steht auf dem Plan. Fertig umgezogen zeigt mir Riccardo den Weg hinein und stellt mich unseren heutigen Trainer und Interviewpartner vor: Nicolas Beck. Er ist Trainer und Mitbegründer des Gladiators Fighting Gym Ostermundigen.
Becks Philosophie
Nicols Beck ist es wichtig, dass die Türen für alle offen sind. Egal ob jung oder alt, gross oder klein. Das Einzige, was man mitbringen solle, sei Motivation, diesen Sport zu erlernen, sagt er mir. Das beste Beispiel hierfür ist ein elfjähriges Mädchen, das neben uns am Trainieren ist und nach einer Stunde Training unversehrt nach Hause geht. Beck ist es auch wichtig, jeden Kämpfer, jede Kämpferin individuell anzuschauen und zu fördern. Jeder habe seine Stärken, jede ihre Schwächen. So gebe es so talentierte Leute, die schon nach drei Wochen bereit seien für den ersten Kampf. Genauso gebe es Andere, die auch nach über einem Jahr Training noch nicht bereit für den Kampf seien. Aber jeder sei eine Bereicherung für das Team. Team? “Ja, ihr seid nicht die Ersten, die sich diese Frage stellen”. Rückblickend kann ich bestätigen, dass ich an diesen Abend Teil von einem Team werde. Auch wenn jeder allein kämpfen muss, agieren alle wie ein grosses Team und unterstützen sich gegenseitig.
„Leider ist Kickboxen als Sportart im Volksmund immer noch eher negativ behaftet. Häufig gerade bei Leuten, die dem Sport und seiner Entwicklung keine Chance geben und Kampfsport immer noch mit dem Bild eines Strassenschlägers gleichstellen.“
Risiken und Vorurteile
Bei allen Kontaktsportarten, nicht nur beim Kampfsport, sind Verletzungen nie auszuschliessen. Es kommt aber darauf an, ob und wie man diesen vorbeugt. Eine Regel, die Verletzungen vorbeugen soll, ist, dass man, wenn man beim Sparring jemanden zum Bluten bringt, so lange Liegestütze machen muss, bis die Blutung des anderen gestillt ist. Dies kann ich live erleben, da diese Regel bei den zwei Männern neben mir zum Zug kommt, als der eine den anderen an der Lippe verletzt. Ich merke schnell, dass die typischen Vorurteile, die jeder hat, zumindest in diesem Gym nicht zutreffen. Es geht nicht darum, möglichst hart zu schlagen oder jemanden zu verletzen. Das Ziel ist hier, eine Sportart zu erlernen und eine Gelegenheit zu erhalten, überschüssige Energie loszuwerden. In einem echten Kampf, welche man sich im Ring duelliert, sieht es jedoch schon ein bisschen anders aus. Im Ring muss damit gerechnet werden, dass man am Ende mit Verletzungen herauskommt. Jedoch wird bei den unter 18-Jährigen durch zusätzliche Schutzausrüstung versucht, das Verletzungsrisiko zu minimieren. Typische Verletzungen, so Nicolas Beck, seien hierbei gebrochene Nasen, Riss im Trommelfell oder Cuts, also Schnitt- oder Schürfwunde im Gesichtsbereich. Schlimmere Verletzungen seien ihm und seinen Kämpferinnen bisher zum Glück erspart geblieben.
Nicolas Beck
Nicolas Beck ist einer der Mitbegründer des Gladiator Fighting Gym , doch der
Weg dorthin war lang. Alles hat vor über zehn Jahren in einer kleinen Garage
mit Kollegen begonnen, ging weiter als Untermieter in einem Dojo, bis dann 2013
endlich die erste eigene Trainingsräumlichkeit zustande kam. Jedoch war auch
diese damals noch bescheiden: 300 Quadratmeter Kellerraum ohne fliessendes Wasser
oder Strom. Man traf sich und vergoss Schweiss und Blut und hatte Spass. Doch von
einem strukturierten Training war man noch weit entfernt. Der Wunsch wurde immer
grösser, sich auch offiziell messen zu können. So kam es dazu, dass 2016 der
erste Kämpfer im Namen des Gladiators Fighting Gym in den Ring stieg und der
Schweiz zeigte, mit welchem Herzblut hier trainiert wurde. Als das Interesse
an der Kampfsportschule immer grösser wurde, zog Nicolas Beck mit seinem Gym nach
Ostermundigen an den heutigen Standort. 2020 eröffnete er ein zweites Gym in Aarwangen.
Aktuell ist das Gladiators Fighting Gym eines der grössten und bekanntesten
Gyms in Bern.

Ausrüstung
Wie bei fast jedem Sport wird zusätzlich zur normalen Sportkleidung spezielle Ausrüstung benötigt. Wie beim Boxen werden auch beim Kickboxen Handschuhe und idealerweise darunter liegende Bandagen verwendet, um das Handgelenk zu stützen und zu entlasten. Was beim Kickboxen noch extra benötigt wird, sind die Schienbeinschützer, die beim normalen Boxen überflüssig sind, da man dort keine Kicks blocken oder austeilen muss. Solche Kicks sind meiner Meinung nach beim Kickboxen aber das Wichtigste und gleichzeitig die Grundausstattung, die jede trainierende Kickboxerin besitzen sollte. Obwohl ich einen Schienbeinschützer trage, werde ich noch zwei Tage später merken, dass ich im Kickboxen ging. Wer jedoch bereits härteres Sparring in sein Training einbaut oder an Kämpfen teilnimmt, sollte sich zusätzlich einen Zahn- und Tiefschutz zulegen. Ich als Laie (und alle, die sich noch nicht sicher sind, ob Kickboxen wirklich das Richtige für sie ist) kann Handschuhe und Schienbeinschützer aus der Sporthalle benutzen.
Boxhandschuhe (30 CHF aufwärts)
Schienbeinschützer (40 CHF aufwärts)
Bandagen (5 CHF aufwärts)
Zahnschutz (5 CHF aufwärts)
Tiefschutz (20 CHF aufwärts)

Training
Umgezogen auf den Matten hole ich meine Ausrüstung für das heutige Training. Ein Regal voll mit Handschuhen und Schienbeinschützern. Ehrlich gesagt, bin ich ziemlich überfordert. Doch noch die richtige Ausrüstung gefunden, gehen Riccardo und ich ziemlich weit nach hinten, um nicht im Mittelpunkt zu stehen und unsere Ruhe zu haben, während wir trainieren. Das Training beginnt mit aktivem Dehnen. Das dient dazu, die Muskeln aufzuwärmen und auf das Training vorzubereiten. Danach folgt ein lockeres Sparring, das sehr speziell ist und sich durch seine besonderen Regeln und Ziele von den herkömmlichen Sparrings unterscheidet, hier der Fokus nicht auf Kampf Simulation ist, sondern die Bewegungsabläufe zu erkennen und zu verstehen. Schläge auf den Kopf sind streng verboten. Tritte und Schläge dürfen nur auf den Körper gerichtet sein, so dass Präzision und Kontrolle im Vordergrund stehen. Das Ziel des Sparrings ist es, der Trainingspartnerin das Gefühl fürs Blocken, Ausweichen und Kontern zu vermitteln. Denn nicht nur die Muskeln müssen aufgewärmt, sondern auch die Reaktionen geübt werden.
Das Aufwärmen fühlt sich mehr wie ein ganzes Training an und nicht nur wie ein Aufwärmen. Die kommende Übung besteht darin, dass der Trainer eine Kombination vorführt, welche wir im Anschluss nachahmen. Ein wichtiger Aspekt dieser Übung, bei der sich das Gladiators Fighting Gym von den anderen Gyms unterscheidet, ist die Ausführung der jeweiligen Schlagkombinationen in die Hände des Trainingspartners zu schlagen, anstatt auf den Körper. Während des gesamten Trainings bleibt der Kopf unberührt, um Verletzungen möglichst zu vermeiden.
Jetzt, wo wir die Kombinationen langsam auswendig können, kommen zusätzliche Schläge hinzu. Die erste fortgeschrittene Kombination ist, der bisherigen einen Lowkick anzuhängen. Ein Lowkick ist ein Tritt mit dem Schienbein, welcher auf den Oberschenkel des Gegners zielt. Nach mehreren Runden beginnen die Lowkicks zu schmerzen, bis wir an einem gewissen Punkt des Trainings kurz aussetzen müssen aufgrund unserer Schmerzen. Genau in diesem Moment sehen wir uns um und bemerken, dass die anderen die Lowkicks eher sanft ausführen, während wir die Einzigen sind, die so kräftig treten.
10 Minuten vor Schluss machen wir noch den Endspurt. 100 Liegestütze und genauso viele Sit-ups stehen uns bevor. Nicolas Beck gibt uns mit seinem Klatschen den Takt vor, in dem wir jeweils 10 Liegestütze zu absolvieren haben. Die 100 Liegestütze geschafft, folgen 100 Sit-ups. Doch nach etwa 50 Liegestützen komme ich langsam an meine Grenzen. Als ich mich kurz umsehe, sehe ich, wie die anderen ohne Problem ihre Liegestütze absolvieren. Mit wenig Kraft, aber motiviert fahre ich fort und sage mir immer wieder: “Nur noch 5 Minuten, dann ist es vorbei. Nur noch 5 Minuten”.
Nicolas bedankt sich bei uns für das Training und entlässt uns. Auf dem Weg zur Umkleidekabine überkommt mich ein extremes Glücksgefühl. “Wow, ich habe es geschafft”, denke ich mir. So einen Dopaminschub hatte ich schon lange nicht mehr. Trotz des Muskelkaters, der mich noch tagelang daran erinnern wird, hat sich das Training definitiv gelohnt.
Interview
Kickboxen hat in der breiten Gesellschaft eher einen schlechten Ruf. Wie sehen Sie das?
Nicolas Beck: “Richtig, allgemein hat Kickboxen einen eher negativen Ruf, vor allem
bei den Leuten, die es überhaupt nicht kennen. Dies haben immer noch das Bild eines
Schlägers im Kopf, wenn sie an Kampfsport denken. Jedoch hast du es heute selbst
gesehen: Wir haben elfjährige Mädchen, die bei uns trainieren, die nicht einen
blauen Flecken haben. Im Kampfsport ist man ein Team und nicht gegeneinander. Darum
wollen wir uns auch nicht gegenseitig verletzen. Logisch gibt es auch heutzutage
noch Gyms, bei denen es eher rabiat zu und her geht. Doch dort sollte man die
Philosophie des Gyms hinterfragen. “
Wie gefährlich ist Kampfsport wirklich? Mit welchen Verletzungen muss man rechnen?
Nicolas Beck: “Als Aussenstehender hört man immer nur die ganz schlimmen Sachen.
Verletzungen, die wir allerdings schon hatten, waren zum Beispiel, dass sich jemand
das Trommelfell gerissen hat oder wegen eines Knockouts ein bis zwei Monate nicht
trainieren konnte. Eine Verletzung, die auch häufig vorkommt, ist das Brechen der
Nase. Doch auch dies ist keine gefährliche Verletzung. Ich hatte zum Glück bis jetzt
keine schlimmeren Verletzungen, nur ein paar Knockouts oder Cuts. Diese konnte man
jedoch direkt flicken.”
Ist Kickboxen für alle, die interessiert und motiviert sind?
Nicolas Beck: “Definitiv, Kampfsport ist für alle! Unser Training ist so angepasst,
dass niemand Schläge auf den Kopf bekommt. Bei uns im Gym hat es Leute in jedem Alter,
der Jüngste ist zehn und der Älteste etwas über 60. Kampfsport ist für jeden, der
sich bewegen will.”
Fazit
Es war nur eine Stunde, diese dafür aufschlussreich, interessant und anstrengend. Nicolas Beck hat mich, der ich sonst auf dem Reiterhof unterwegs ist, in eine neue Welt hineinblicken lassen. Auch ich bin mit Vorurteilen, die viele andere auch haben, in dieses Training hinein gegangen. Ja, es ist Kampfsport. Und ja, es gibt gewisse Risiken, die nicht vermeidbar sind. Umso mehr beeindruckte mich, wie mit diesen Risiken umgegangen wird. Unter anderem lehrt Kampfsport Disziplin, eine essenzielle Eigenschaft, die in der Welt des Kickboxens unverzichtbar ist, denn ohne Disziplin sind Fortschritte kaum möglich. Wer viel Energie hat, die er loswerden will, und sich gerne herausfordert, ist im Kickboxen sicherlich richtig. Auf dem Nachhauseweg, im Bus sitzend merke ich dann doch gut, wie auch meine Energie geschwunden ist. So extrem, dass ich im Kampf gegen meine zufallenden Augen leider kapitulieren muss.
„Definitiv, Kampfsport ist für alle! Unser Training ist so angepasst, dass niemand Schläge auf den Kopf bekommt.“